Der Blutfleck im Podelwitzer Schloss

Vor einigen Jahren unterhalten sich nach Feierabend zwei Bauernfrauen in Röda über die Erfolge ihrer bäuerlichen Arbeit, während ihre Männer in gewohnter Weise in der Schenke sitzen.
„Therese, ich glaub´, der Bauer Veit da drüben hat den Kobold im Hause!“ – „Aber Rosel, wie kommst du bloß darauf?“ – „Na, der hat doch immer Glück bei allem, was er unternimmt!“ – „Das stimmt. Hat er nicht die Ernte wieder völlig trocken hereingebracht. Und was für eine Ernte!“ – „Ja, sein Kobold rafft auch von unseren Feldern die schönsten Ähren mit weg!“ – „Und die Kühe in seinem Stall geben die beste und meiste Milch im ganzen Dorf!“ – „Du, da hat auch sein Kobold die Hand im Spiele: Er melkt nachts die Kühe in unseren Ställen!“ – „Nun kann ich mir auch denken, wie es kommt, dass ich bei meinen Hühnern so wenig Eier abnehmen kann!“ – „Freilich, sein Kobold lockt unsere Hühner hinüber, dass sie die Eier bei seinem Herrn legen!“ – „Kein Wunder, dass der Veit so reich geworden ist, dass er jeden Tag einen anderen Hundertmarkschein wechseln lassen kann!“ – „“So ist´s, Rosel.“
„Sag mal. Theres, wie sieht denn eigentlich ein solcher Glücksbringer aus?“ – „Ein Kobold hat meistens die Gestalt eines schwarzen Katers mit einem großen, runden Kopf und feurigen Augen; und schreien kann er wie ein ängstliches Junghühnchen. Gesehen habe ich ihn aber noch nicht; denn er wird vom Bauer ängstlich verborgen gehalten, ich glaube, in der Kleiderkammer.“ – „Warum bleibt er immer nur beim Veit?“ – Ja, der pflegt ihn besonders gut und füttert ihn mit Leckerbissen.“ – „Da möchte ich mal dazukommen!“ – „Um Gottes Willen, Rosel: Wer ihn dabei überrascht, der hat großen Schaden davon. Er kann froh sein, wenn er bloß Schläge bekommt, ohne sich wehren zu können. Aber viel schlimmer ist es einmal dem Zimmermädchen der Schloßherrin zu Podelwitz ergangen.“ – „Was weißt du darüber, Theres? Erzähle schnell!“
Da schaut sich die kluge Bäuerin vorsichtig um, hebt gewichtig den rechten Zeigefinger, geht einen Schritt näher an die Nachbarin heran und spricht halbleise zu ihr:
 „Mir hat es einst meine selige Großmutter erzählt, und die weiß es von ihrem Vater, der damals auf dem Hofe fronen musste. Der edle Herr auf Podelwitz war gestorben, ohne Kinder zu hinterlassen, und die Bewirtschaftung des großen Besitzes lag nun viele Jahre lang in den Händen der Schloß- und Rittergutsherrin, einer sehr selbstbewussten  Dame, die von ihrem Gesinde mehr gefürchtet als geliebt wurde. Trotzdem ging die Ganze Wirtschaft nicht bergab, im Gegenteil. Die Ernten waren vorzüglich, der Viehbestand in bester Ordnung. Der Wohlstand wurde sichtlich immer größer. Es konnte gar nicht anders sein: sie hatte einen Kobold, der ihr die Truhen mit Gold füllte! Und dabei blieb es.
Aber selbst ihre allernächste Vertraute, die Zofe, hat ihn nie zu sehen bekommen. Sie bekam vielmehr die Anweisung, dreimal zu klopfen, bevor sie das Zimmer der gnädigen Frau betrat, und musste sich auch auf das Strengste danach richten. Einmal jedoch siegte bei dem Mädchen die Neugier: Sie trat hastig, ohne anzuklopfen, ein. Was konnten da ihre erstaunten Augen sehen?  Der Kobold saß auf dem Schoß ihrer Herrin, ließ sich von ihr streicheln und mit den besten Bissen füttern. Beim Öffnen der Tür verschwand er sofort hinter einem Vorhang. Die Herrin jedoch sprang aufs höchste erschrocken und von blinder Wut gepackt auf das Mädchen zu, warf es zur Tür hinaus und die Wendeltreppe hinunter, wo die Unglückliche blutüberströmt und tot liegen blieb.
Die Schloßherrin sollte wegen dieser schlimmen Tat gehenkt werden; sie kaufte sich zwar los, musste aber Zeit ihres Lebens eine eiserne Kette um den Hals tragen. Der Blutfleck soll trotz aller Versuche, ihn zu beseitigen, sichtbar geblieben sein bis auf den heutigen Tag.“
„Theres, das ist ja ganz schrecklich“ wollte eben die Rosel sagen. Da steht plötzlich der Veit vor ihnen, der von einer abendlichen Streife durch seine Felder zurückkehrte. „Was faselt ihr da von einem Kobold?“ ruft er mit einer harten Stimme. „Kümmert euch lieber hübsch um eure Wirtschaft, dann wird es auch bei euch besser vorwärtsgehen! Und die Geschichte vom Podelwitzer Schlosse haben sich auch nur böswillige Leute erdacht; da ist nirgends auch nur eine Spur von einem Flecken zu sehen, weder von Blut, noch von anderem Unrat, weder innen, noch außen!“ „Sie haben aber im Schlosse eine Treppe, die heißt heute noch die rote!“ verteidigt sich Theres. „Gewiß“, antwortet Veit, „aber doch nur deshalb, weil sie aus rotem Porphyr gebaut ist.“
Da schweigen die beiden Weiber betreten und verabschieden sich rasch.

H. M.